Jeden Tag ist Mantelteilung
von Bettina Schack
Der Bettler, mit dem St. Martin den Mantel teilt, wurde in der Zeit um 1500 oft als Leprakranker oder Arm-Bein-Amputierter gezeigt.
Foto: Bettina Schack
Dinslaken 500 Jahre ist St. Martin in der Ev. Stadtkirche alt. Doch sein Appell an die Mitmenschlichkeit ist ungebrochen stark und direkt. Fast schon Nikolausabend? Im ersten Teil unserer neuen NRZ-Serie „Kirchen-Kunst-Schätze“ geht es noch einmal zurück in den November. Der 11.11., St. Martin. In Dinslaken hat dieser Festtag eine besondere Bedeutung: Er erinnert nicht nur an die Barmherzigkeit des römischen Soldaten, der Bischof von Tours wurde.
In Dinslaken war St. Martin ein Fest für den Handel. 1478 wurde der Stadt das Marktrecht verliehen, der jährliche Markt, der Jahrmarkt, fand im November über St. Martin statt. Daran erinnert heute die Martinikirmes, die aus dem Jahrmarkt hervorging, und irgendwie auch das vorzeitige Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung in der Fußgängerzone.
Doch genau dort, an der Middelport, dem innerstädtischen Tor, das die Altstadt von der Neustraße trennte, lag auf dem Grundstück der heutigen Stadtbibliothek das Gasthaus. Kein Hotel, sondern, wortwörtlich übersetzt, ein Hospital. Dinslakens erstes Pflegeheim.
Das Gasthaus wurde, so ist es in Dittgens „Stationen“ nachzulesen, zu Beginn des 15. Jahrhunderts von drei aus Dinslaken stammenden Kanonikern gegründet. Einer von ihnen, Arnold Lichtpont, war Domherr in Lüttich und hatte auch ein Kanonikat am dortigen St.-Martins-Stift. Die Kapelle des Dinslakener Gasthauses war allerdings dem Heiligen Geist geweiht. Der Altar jedoch war mit einer Vikarie verbunden und dieser Altar war dem Heiligen Martin geweiht. Das Altarbild ist bis heute erhalten, es steht, gut gesichert unter Glas, oben auf der Orgelempore der Ev. Stadtkirche. Und das kam so: Die Gasthauskapelle wurde im Januar 1611 den Lutheranern in Dinslaken als Kirche zugewiesen – ihr erstes eigenes Gotteshaus in der Stadt, nachdem St. Cyriakus in Hiesfeld schon 1585 protestantisch wurde.
St. Martin blieb in der Kirche, Rüdiger Gollnick und Rudolf Schill bezeichnen sie in ihrem Buch „Die Evangelische Stadtkirche zu Dinslaken“ von 1981 sogar als St-Martins-Kapelle. Doch 1722 errichteten die Reformierten nur wenige Meter weiter die Stadtkirche und als es 1817 zu einer Union der beiden protestantischen Gemeinden kam, konnte St. Martin nicht mit umziehen – so bilderfeindlich blieben die Reformierten.
Der Altar ging mit der Gasthauskapelle unter, das geschnitzte Altarbild aber behielt man – im Pfarrhaus. Und dort stand es, bis der jetzige Denkmalgeschützte Bau vom Pastor i. R. Ronny Schneider von der Gemeinde gekauft wurde. Die Plastik wurde restauriert und fand nun ihren, leider etwas versteckten Ort nur wenige Meter von ihrem ursprünglichen Standort entfernt auf der Orgelempore. Dr. Ulrich Thekaten von der IG Altstadt habe mit der sicheren Aufbewahrung unter Glas geholfen, berichtet Pfarrer Armin van Eynern.
Hunderte von Kindern drängen sich in der Duisburger Straße, wenn St. Martin dort hoch zu Ross ins Burgtheater reitet. Oder haben ihn in diesem Jahr schmerzlich vermisst. Dabei ist die Szene der Mantelteilung doch stets präsent, so wie vor 500 Jahren.
Sankt Martin und der Bettler unmittelbar nach der Restaurierung 2008. Im Anschluss erfolgte die Aufstellung in der Stadtkirche
Foto: Bettina Schack
Ist es ein Zufall, dass die St.-Martins-Vikarie für den jeweiligen Rektor des Klosters Marienkamp ausgerechnet in jener Zeit gestiftet wurde, als Martini zum Markttag erklärt wurde? Sicher ist, das Schnitzwerk ist eine eher einfachere Arbeit. Kaum einen halben Meter hoch erscheint St. Martin gegenüber seinem Pferd und dem Bettler überlebensgroß. Und während der St. Martin im Xantener Dom eine goldene Rüstung trägt, kommt der Dinslakener Martin eher gut bürgerlich-kleinstädtisch daher – eine Darstellung, die man allerdings so auch in anderen Martins-Altären der Zeit um 1500 findet. Fragend schaut er den Betrachter an, als wolle er sagen „Und wie handelst Du in meiner Situation?“, während er selbst die Entscheidung schon getroffen hat, das Schwert gezogen und den Mantelzipfel in der Hand. Der barmherzige St. Martin, der nicht mitleidig auf den Bettler aus Holz hinab schaut, sondern sein menschliches Gegenüber in den Fokus nimmt. Ein starkes, fesselndes Stück Kunst mit einer Aussagekraft, die nach einem halben Jahrtausend ungebrochen ist wie am ersten Tag. St. Martin ist für Besuche offen. Termine können mit der Küsterin der Ev. Stadtkirche vereinbart werden.
Quelle: NRZ 05.12.2020