Die Rettung der „Kundschafter“ vor dem Bagger
Pastor Ronny Schneider war 1978 zufällig zur Stelle und verhinderte die Zerstörung des Reliefs.
von Bettina Schack
Der „Ohrenmann“ vor der Evangelischen Stadtkirche hat „Die Kundschafter“ im Blick.
Foto: Lars Fröhlich
Dinslaken. Die Weintraube dort auf ist so groß, dass zwei Männer sie tragen müssen. Es gibt also reiche Früchte. Und diese beiden Männer sind die Kundschafter, die mit ihrer süßen Last Moses und Aaron zeigen, dass die Flucht aus Ägypten, die vielen Entbeh-rungen, vor allem aber das Vertrauen auf Jahwe nun tatsächlich Früchte tragen wird. Die Kundschafter sind den Israeliten vorausgegangen und kehren nun zurück aus dem verheißenen Land, dem Land, wo Milch und Honig fließen.
Das schwere Relief außen an der zur Brückstraße gelegenen Sakristeiwand der Evangeli‐schen Stadtkirche ist die zweite künstlerische Darstellung der alttestamentarischen Kund‐schafter. Die erste findet man über der Orgelempore auf einem der Glasfenster von Werner Persy. Dort korrespondieren die Weintraube der Kundschafter mit dem neutestamen-tarischen Wort Christi „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“.
Und „Die
Kundschafter“ draußen? Es ist selbst ein kleines Wunder, dass dieses Werk dort erhalten ist. 1978 wurde das Haus an der Eppinghovener Straße 24 abgerissen. Der Altbau, in dem ein Konsum
untergebracht war, stammte von 1910. Mit der Neugestaltung des Altmarkts wurde an der Stelle später ein neues Gebäude errichtet, die Buchhandlung Korn hat heute darin ihr
Domizil.
Doch zurück zu jenem Nachmittag des Jahres 1978. Pfarrer Ronny Schneider wollte seinen Töchtern, die gerade aus der Schule kamen, etwas bieten: Schaut mal, wie das ist, wenn
die Bagger kommen und ein Haus abgerissen wird.
Während sich die Kinder wohl eher für das Staub aufwirbelnde Spektakel interessier-ten, nahm der evangelische Pfarrer allerdings – erstmals bewusst – das Relief am ersten Stock des Gebäudes wahr. Und er wusste sofort den biblischen Inhalt zu deuten. „Hören Sie sofort auf – Sie zerstören Kunst!“ Noch heute erinnert sich Ronny Schneider an seine Worte und an seine Reaktion, als der irritierte Baggerführer der Aufforderung nicht sofort nachkam: „Wenn Sie nicht augenblicklich aufhören und das Kunstwerk retten, schalte ich den Bürgermeister ein“.
Die Verunsicherung der
Arbeiter war nun so groß, dass sie eine Pause einlegten. Dann setzten sie alles daran, das Relief irgendwie von der bereits halb eingerissenen Hauswand zu bekommen und auf den Boden
abzulegen.
Ronny Schneider brauchte also nicht Bürgermeister Karl-Heinz-Klingen vom Rathaus auf den Altmarkt holen. Stattdessen bat er jemand anderen von zwei Ecken weiter zur Abbruch-stelle:
Steinmetz Willy Hilgert, dessen Familienbetrieb heute, 2021, bereits schon in der dritten Generation an der Dr.-Otto-Seidel-Straße gelegen
ist.
Was Willy Hilgert und seine Mitarbeiter 1978 von den „Kundschaftern“ sichern konnten, waren „lauter Bruchstücke“, erinnert sich der Steinmetz, der Dinslaken schon einige bedeutende Werke, darunter die drei Kreuze, in seiner Werkstatt restauriert hat. Er fügte die einzelnen Stücke des Reliefs – eine Arbeit in Sandstein – zusammen, um davon einen Abguss aus Steinersatzmaterial zu nehmen. Dieser wurde dann im Nachgang handwerklich nachbearbeitet und von Hilgert an der Wand der Stadtkirche angebracht: Eine Spende des Steinmetzes, wie sich Ronny Schneider noch heute gerne erinnert.
Die Kundschafter zeugen nicht allein von der erfüllten Verheißung des gelobten Landes. Sie sind ein echtes Stück Stadtgeschichte. Denn nicht nur Ronny Schneider und Willy Hilgert gehören zur Altstadt, sondern auch der Schöpfer des Sandstein-Werks aus dem Jahre 1910. Es ist Paul Jacobs, Vater des Buchhändlers Paul Jacobs, der die Bücherstube am Walsumer Tor führte. Vom Senior ist auch noch weitere Kunst am Bau in der Altstadt erhalten: Paul Jacobs schuf auch die figürlichen Darstellungen an der Fassade der ehemaligen Bäckerei Stöcker gegenüber der Wöllepump.
Quelle: RP 13.05.2021