Zeitzeugnis aus dem Lager Thyssenstraße

Nur wenig ist über das so genannte Ausländerlager an der Thyssenstraße bekannt. Doch nun hat Museumsleiter Dr. Peter Theißen zwei Briefe ersteigert, die ein belgischer Gefangener 1944 von dort an seine Verwandten sandte.

von Bettina Schack

Einer der beiden Briefe, die von Dechambre aus dem "Ausländerlager Thyssenstraße" zu den Verwandten in der Provinz Lüttich geschickt wurden. Die kyrillischen  Buchstaben deuten darauf hin, dass diese Karten auch von russischen Gefangenen verwendet wurden.   Foto: Museum Voswinkelshof

 

Dinslaken Er bittet seine Liebsten daheim um ein Glas Marmelade und Seife. Kleinigkeiten, aber in seiner jetzigen Situation Luxus. Und als endlich das Paket kommt, muss er dafür zahlen. 40 Pfennig, „fenich“, wie er ihnen in seinem auf französisch verfassten Brief schreibt. Das Päckchen wird vor seinen Augen geöffnet, doch zum Bezahlen muss er woanders hin. Anschließend hat er das Gefühl, dass die, die das Päckchen für ihn öffneten, ebenfalls äußerst interessiert an dem Inhalt waren. Er listet seiner Familie auf, um was er gebeten hat und was er erhalten hat. Und hofft, irgendwann wieder frei zu kommen. Es sind Zeilen, kaum leserlich und eng geschrieben auf inzwischen vergilbtem Papier, die unter die Haut gehen. Auch das ist Dinslakener Stadtgeschichte. Der Mann ist Belgier mit Verwandten – vielleicht sein Bruder und dessen Frau – im Ortsteil Ensival von Verviers, einer Stadt in der Provinz Lüttich. Der Ort, an dem er gefangen gehalten wird, ist die Thyssenstraße 116.

 

Es ist Frühjahr 1944 und im Industriegebiet am Rande der Dinslakener Innenstadt liegen nicht nur die riesigen Werkshallen mit nationalistischen Propaganda-Sprüchen an den Innenwänden, die nach ‘45 keiner für nötig hielt, neu zu tünchen. Hier befindet sich das Kriegsgefangenenlager. „Ausländerlager“, nennen es die Nazis. Geblieben ist davon – im Gegensatz zu den Baracken der Fliehburg einige 100 Meter weiter – nichts. Und auch die Zustände dort sind kaum dokumentiert. Umso wertvoller ist es, wenn Originalquellen auftauchen. So wie die beiden eng beschriebenen Postkarten von Micalus Dechambre an Marie und Albert Dechambre vom 8. und 30. April 1944. Museumsleiter Dr. Peter Theißen konnte sie in diesem Jahr für das stadthistorische Zentrum ersteigern.

 

Historische Dokumente mit Bezug auf Dinslaken sind Zufallsfunde, Dr. Theißen ist mit privaten Sammlern vernetzt. So auch mit Kai Heinrich, einem aus Dinslaken stammenden Designer in Hannover, der Fotos vom Rheinübergang der Alliierten zwischen Emmerich und Remagen sammelt, erfasst und dokumentiert. Es stieß bei seiner eigenen Suche auf die Briefe und gab Dr. Theißen den Tipp.

 

Es sind zwei verschiedene Postkarten-Drucke, die Dechambre verwendet hat. Auf der einen sind die Adressfelder auf Deutsch und auf Russisch markiert, die andere trägt einen für Zwangsarbeiter umso zynischeren Propagandaspruch über den „Führer“, der nur „Arbeit und Sorge“ kenne. Abweichungen auch bei den Stempeln. Einmal wurde der allgemeine Adressstempel „Ausländerlager Dinslaken/Ndrh. Thyssenstraße 116“ verwendet, das andere Mal „Ausländerlager Thyssenstraße Lagerführung“. Brauchte der Brief, der die Missstände aufzeigte, eine besondere Freigabe?

 

Der Wunsch nach Freiheit scheint zumindest für Dechambre in Erfüllung gegangen zu sein. Zumindest findet man seinen Namen nicht in der Liste der Stadt Dinslaken, in der die gefallenen Ausländer in Dinslaken erfasst sind. Mehrfach sind Belgier aus dem oder den Lagern der Thyssenstraße (Nr. 108 in der Liste, Nr. 116 auf den Briefen) genannt, die in den letzten Kriegstagen am 17. April erschossen wurden. Aber da ist auch das Schicksal von Marcel Schynen, ebenfalls aus Lüttich, der im Januar 1945 mit 45 Jahren an der Thyssenstraße an der Grippe starb.

 

Was aus den Dechambres wurde, ist im stadthistorischen Zentrum unbekannt, der Verkauf der beiden Briefe erfolgte bereits über Dritte. Auch am Standort des Lagers in der großen Biegung der Thyssenstraße, erinnert nichts mehr an die Schrecken vor 75 Jahren. Gerade deshalb ist es wichtig, dass solche Dokumente wie die nun aufgetauchten Briefe im stadthistorischen Zentrum erfasst und erhalten bleiben, als Zeitzeugnisse gegen das Vergessen.

Quelle: NRZ 10.12.2020