Nie wieder Menschen ihrer Würde berauben
Mehr als 600 Bürger auf dem "Weg der Erinnerung" am 10. November 1988
von Ronny Schneider
Dinslaken. Zu einem "Weg der Erinnerung" an die Gräueltaten, die vor 50 Jahren das Ende der jüdischen Gemeinde in Dinslaken bedeuteten, versammelten sich am 10. November mehr als 600 Bürger in
der Dinslakener Innenstadt. An der Gedenktafel am ehemaligen jüdischen Waisenhaus in der Neustraße erinnerte Pfarrer Ulrich Bendokat daran, dass am 10. November 1938 eine Horde uniformierter
Nationalsozialisten das Waisenhaus verwüstet und in den Tagen danach geplündert hat. Die 46 im Waisenhaus lebenden Menschen - darunter 32 Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren - wurden unter
den Blicken der Polizei und der Bevölkerung aus dem Haus getrieben und nach einer Wartezeit in einer nahege- legenen Schule in einem "Judenzug" durch das damalige Zentrum Dinslakens getrieben.
Die kleineren Kinder wurden auf einen Leiterwagen gepfercht, der von vier größeren Jungen gezogen werden musste.
Daran, dass man Menschen wie Vieh abtransportierte, sollte der Leiterwagen erinnern, den Christen beider Konfessionen am Gedenktag durch Dinslaken zogen. Bewegt bekannte Bendokat: "Wir schämen
uns, wir trauern, wir wollen nicht vergessen."
Der Hiesfelder Presbyter Kurt Hagenbeck rief auf zu bekennen, dass man selbst in die Irre
gegangen sei. Schuld werde durch Vergebung und niemals durch Verdrängung getilgt.
An der Stelle der ehemaligen Synagoge in der Klosterstraße nannte Jürgen Leipner, der Vorsitzende des Ausschusses "Juden und Christen", die sogenannte "Kristallnacht" die "Nacht der
Gotteslästerung", weil Gottes Volk angetastet und die Heiligen Schriften zerstört worden seien.
Kritische Fragen stellten Schüler des Grundkurses Religion am Theodor-Heuss-Gymnasium mit ihrer Lehrerin Marion Fritsch an der dritten Station Neustraße/Ecke Bahnstraße. Regieren nicht immer noch Gleichgültigkeit, Passivität und Ignoranz? Die Gymnasiasten warnten vor gedankenlosen Türkenwitzen oder der Beschimpfung von Asylbewerbern als Schmarotzern. Jeden Tag gebe es eine kleine Kristallnacht, wenn Jugendliche auf Computern "Türken jagen" spielten oder Asylantenheime in Flammen stünden.
Als "Licht der Hoffnung" verteilten die Schüler an die Anwesenden Kerzen. Mit den Kerzen in der Hand zogen dann alle schweigend zur vierten Station, der Kreuzigungsgruppe an der Kirche St.
Vincentius.
Dort mahnte Superintendent Hans-Joachim Trauthig: Der "Weg der Erinnerung" sollte davor bewahren, jemals Menschen ihrer Würde zu berauben.
Nach einer kleinen Stärkung mit Tee und Schmalzstullen fand zum Abschluss vor mehr als 400 Zuhörern ein ökumenischer Gottesdienst in St. Vincentius statt. Dort berichteten auch Augenzeugen von
den Ereignissen am 10. November 1938 in Dinslaken. Hermann Overländer, dessen Bericht von Presbyter Fritz Ettwig vorgetragen wurde, und Heinz Deckers. Auszüge aus dem Bericht des Leiters des
jüdischen Waisenhauses Yitzhak Sophoni Herz las Pfarrer Jörg Götte vor. Willi Dittgen unterstrich in seiner Schilderung der Situation bis 1938, dass die Juden in Dinslaken sich als Deutsche
fühlten, zum Teil hohe Tapferkeitsauszeichnungen gehabt hätten und als angesehene Dinslakener Bürger vollkommen integriert gewesen seien. So sei 1927 ein jüdischer Mitbürger Schützenkönig gewesen
und habe sich als Königin die Frau des damaligen Bürgermeisters Dr. Hoffmann auserkoren. Die Salomos, Davids, Cohn und Jacobs seien Viehhändler, Kaufleute, Hand- werker und Akademiker in
Dinslaken gewesen. Bis 1938 habe sich die Zahl der jüdischen
Einwohner von 225 im Jahre 1913 und 234 im Jahre 1932 auf 75 verringert. Uns alle träfe
angesichts der Ereignisse vom 10. November und danach "die Schuld des Mitmachens, des Duldens und des Wegsehens."
Pfarrer Hendrik Rietberg und Dechant Bernhard Kösters hielten zwei Kurzpredigten. Kösters
erinnerte an den bitteren Satz des jüdischen Tanztheaters: "Der Tod ist ein Meister aus
Deutschland." Er rief zum Protest auf gegen jede menschliche Entwürdigung und zum Abschied von der Intoleranz. Er warnte vor "schizophrener Kultur", einer Geistesart, die das Höchste denken könne
und das Niedrigste und Gemeinste gleichzeitig tun könne. Kösters schloss die Predigt mit der Frage: "Woher nehme ich die Zuversicht, dass ich vor solchem Handeln gesichert bin?"
Draußen vor der Kirche standen unter dem Kreuz Jesu die Schilder mit den Namen der jüdischen Waisenkinder, Lichter der Hoffnung, und Schilder mit der Aufschrift. "Nie wieder Faschismus. Nie
wieder Krieg."
Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.
Oft zitiert wird in diesem Zusammenhang ein Ausspruch des jüdischen Weisen Baal Schem Tov aus dem 18. Jahrhundert, der sich auf einer Tafel in der Holocaust-Gedenkstätte "Jad wa-Schem" in
Jerusalem findet. "Vergessen führt in die Gefangenschaft. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung (Befreiung)."
"Wir schämen uns"
"Wir gedenken der Gräuel, die in Dinslaken und im ganzen damaligen Deutschen Reich stattfanden, und den öffentlichen Beginn der späteren systematischen Ausrottung des europäischen Judentums
bedeuteten.
Wir schämen uns, wir trauern, wir wollen nicht vergessen, was im deutschen Namen den Juden auch in Dinslaken angetan worden ist. Denn, wer vergisst, ist nicht bereit für die Zukunft zu lernen."
Pfarrer Ulrich Bendokat aus Walsum-Aldenrade (später Superintendent des Kirchenkreise
Dinslaken) sprach diese Sätze auf dem "Weg der Erinnerung" in Dinslaken.
Als die Thorarollen zerstört wurden...
"Als die Thorarollen zerstört wurden, waren Christen daran beteiligt, die gemeinsame Heilige
Schrift der Juden und Christen zu zerstören.
Als die Thorarollen zerstört wurden, wussten viele Juden darum, dass ihnen damit das Leben
zerstört werden sollte.
Als die Thorarollen zerstört wurden, wollten die Nazis den Weg vernichten, den Gott mit dem
jüdischen Volk aus der Unterdrückung gegangen ist und noch immer geht.
Als die Thorarollen zerstört wurden, wussten die Menschen noch nicht, dass vom 9. auf dem 10. November 1938 planmäßig 259 jüdische Gotteshäuser zerstört wurden, dass 750 jüdische Geschäfte
geplündert und zerstört wurden, dass mehr als 25 000 jüdische Männer in Konzentrationslager gebracht wurden, dass 50 Millionen Menschen in den Weltkriegen sterben würden."
Der synodale Ausschuss "Christen und Juden" im Kirchenkreis Dinslaken verfasste dieses Votum aus Anlass der 50. Wiederkehr der Pogromnacht.
Eine Wende zur Humanität
Synodaler Ausschuss erhielt Brief aus Israel
von Ronny Schneider
Dinslaken. Zur Jahreswende erreichte Jürgen Leipner, den Vorsitzenden des Ausschusses "Christen und Juden" im Kirchenkreis Dinslaken, ein Brief aus Israel. Yitzhak Sophoni Herz, der ehemalige
Leiter des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken, zeigte sich beeindruckt von den Aktionen der Dinslakener am 10. November 1988...
Nachdem Jürgen Leipner über die Dinslakener Initiativen nach Israel berichtet hatte, schreibt Herz in seinem Antwortbrief:
"Im Zusammenhang mit der 50. Wiederkehr der sogenannten `Kristallnacht`ist naturgemäß meine Korrespondenz betreffend dieses `Ereignisses` zahlreicher geworden. Jedoch ohne Übertreibung darf ich Ihnen verraten, dass ich in meinen kühnsten Träumen am 10. November 1938 nicht gedacht hätte - oder gewagt hätte zu denken - dass eine deutsche Stadt wie Dinslaken jemals eine Kehrtwendung zur normalen Humanität machen könnte und auf diese Weise vor der Weltöffentlichkeit demonstriert, dass man mit Hilfe einer neuen Generation einen radikalen Umschwung zum Guten Bewerkstelligen könnte.
Im Hebräischen würde man sagen, man hat `Tshuvah` (übersetzt: Umkehr) getan, was die
Grundidee des Versöhnungstages ``Yom Kippur` ist. Nun mögen Sie eine Idee bekommen, wie wir, Meine Gattin Susi und ich, mit tiefbewegten Gefühlen Ihre Zeilen lasen. Wir merkten nicht einmal, dass
das Lesen Ihres Reportes Tränen bei uns auslöste.
Für diesen Mut, der Wahrheit eine Bahn zu brechen, zolle ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern sowie dem Magistrat der Stadt vollsten Dank."
Foto: Ronny Schneider
Foto: Ronny Schneider
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Foto: Ronny Schneider
Foto: Ronny Schneider
von links Superintendent Hans-Joachim Trauthig, Dechant Bernhard Kösters
Foto: Ronny Schneider
Muss die Vergangenheit immer wieder in Erinnerung gerufen werden?
von Ronny Schneider
Muss die Vergangenheit immer wieder in Erinnerung gerufen werden? Einmal muss doch auch Schluss sein. Darauf will ich antworten mit einem Satz von Bertolt Brecht:
"Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde.
Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!"